Texte/Reden
Manfred Schlüter
„Mit dem zweiten Blick“ Rede anlässlich einer Ausstellungseröffnung in der Galerie Art und Weise in Heide am 27. Oktober 2005
Es war einmal …
Die Menschen schauten erwartungsvoll. Er aber stand da und wusste nicht, wie er beginnen sollte. Und wo. Anfangen, wo es anfängt, dachte er. So hatte Dylan Thomas einmal geschrieben. Doch wo fängt es an?
Es gab keinen Anfang. Und kein Ende. Jedenfalls kannte er weder das eine noch das andere. Er kannte nur einen Teil der Geschichte. Und jedes Ding hatte seine eigene. Das machte sie kostbar, so einmalig, diese Dinge, die auf den ersten Blick nichts anderes waren als Abfall, Müll. Es gibt keinen Müll, dachte er und beschloss, sie vorzustellen. Er nannte sie beim Namen, und die Dinge traten auf, der Reihe nach:
Die Türschwelle, die in der alten Dorfschule einst den vorderen vom hinteren Flur trennte und jetzt ein Streifen Himmel war und auch Erde.
Die Tischplatte, über die er sich so oft gebeugt hatte, mit dem Stift in der Hand oder dem Pinsel. Mittlerweile war sie ihres Furniers beraubt und gab ihr geweißtes Innenleben preis. Das erinnerte ihn Wolken, weiten Himmel und an den, von dem er nicht recht wusste.
Die Reststücke von Kartons und Pappen und Bauhölzern, die im Wege lagen - jahrzehntelang - und Platz raubten, Staub fingen und zu nichts nutze waren.
Die Arbeitshandschuhe, die ihm bei diversen Baumaßnahmen an Herz - und an die Haut - gewachsen waren.
Die Lappen und Tücher, die alles, alles geschluckt hatten: Wasser, Farbe, Schmutz.
Der Palettstecker - zweiteilig, zylindrisch - der vor dieser Zeit eine große Zuneigung für Terpentin und Malmittel empfand und jetzt als Busen fungierte.
Die Gesichter diverser Damen, die vor einigen hundert Jahren unter dem Pinsel des großen Meisters aus Vinci Gestalt annahmen. Er fand sie - zusammengepresst - in einem Buch.
Der Pinsel, den er im Jahre 1978 von einem Brunsbütteler Malermeister erbte. Opa Scharp, wohnhaft im Erdgeschoss des Hauses am Markt 17, war an die neunzig und hinterließ - neben diesem einen - zahlreiche weitere Pinsel. Und er, wohnhaft im ersten Stock des Hauses am Markt 17, meinte sie retten zu müssen.
Der hölzerne Wegweiser, den er seiner Tochter verdankte. „Zur Mariengrotte“. Das war in vergessenen Zeiten im Steinburgischen zu lesen. Die „Marie“ und „zur“ und das „n“ lagen noch in seiner Werkstatt. In der „grotte“ aber fand er gott, zumindest seinen Namen, und gab ihm Raum im weiten Himmel.
Das genarbte Stück Holz, ehemals in Cardiff beheimatet, dann der salzigen See ausgesetzt, über Monate und Jahre, schließlich an Land gespuckt bei Katingsiel. Dort fand es Achim B., ein schreibender Geselle, und legte es vor seine Haustür.
Die mannsgroße Bohle, die ihm aus dem Mecklenburgischen zugereist war, in Begleitung seiner Lieblingskollegin Carmen B.. Die strahlte eine solche Würde aus, dass er sie monatelang nicht anrührte. Aber anschauen musste er sie immer wieder, die Bohle.
Die beiden Backformen, die im schwiegermütterlichen Ofen diversen Teigmischungen ein vorübergehendes Zuhause boten und jetzt Heimstatt zweier bleicher Mumien waren.
Die Weckerteile aus der Werkstatt eines Uhrmachers im Nordfriesischen, die einer befreundeten Malerin in die Hände fielen. Inge W., der er zudem diverse Hölzer verdankte und ein Sortiment glänzender Fahrradspeichen, legte sie in seine.
Name folgte auf Name. Die Dinge, sie traten auf und traten ab. Und die Menschen schauten. Was hatten sie erwartet? Eine Erklärung? Eine Antwort auf ihre Fragen? Er wusste keine Antwort. Er stand inmitten seiner Dinge und betrachtete sie. Mit dem zweiten Blick. Dem dritten, dem vierten ... Es ist was es ist, sagt die Liebe. So hatte Erich Fried geschrieben. Es ist was es ist, murmelte er, aber es ist nicht immer gleich, nicht immer dasselbe.
Die Dinge, ihrer Funktion beraubt, von ihr befreit, zeigen ein anderes Gesicht. Man muss es nur sehen! Dann wird das gläserne Fenster des Weckers zu Sonne oder Mond, die Rückseite desselben zum traurigen Antlitz. Aus Lappen, Lumpen werden Wesen, Unwesen auch, und aus der Maserung geschundenen Holzes wachsen Himmel und Erde. Oder nichts. Zumindest erinnert es an nichts. Und doch ist es da. Und ist was es ist. Heute dies, morgen das. Und für jeden etwas anderes.
Vielleicht sollte er ihnen das sagen, dass nur sie die Antwort finden können. Ihre ganz eigene Antwort. Dass Suchen wichtiger ist als Finden. Und Fragen wichtiger als Antworten. Vielleicht sollte er noch das Schinkenbrett erwähnen, oder den starken Strick, den er vom Flutsaum klaubte, vielleicht die in einem Heider Baumarkt erworbenen Leisten verschiedener Stärke, oder die metallnen Teile, die ihm Gudrun J. zum Geschenk machte. Auch hatte er noch nichts erzählt vom Universum seiner Rumpelkammer, und vom spielerischen Ernst, mit dem er die Dinge zusammenfügte, wie zu einem Puzzle, dessen endgültige Gestalt er nicht kannte. Nicht im Voraus jedenfalls. Vielleicht sollte er ihnen das sagen. Er wusste es nicht.
Er stand da. Ratlos. Und die Menschen schauten. Und schauten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schauen sie immer noch. Mit dem zweiten Blick, dem dritten, dem vierten …
Eigentlich ein schöner Schluss, dachte er. Und schwieg.
Einige Anmerkungen:
Anfangen, wo es anfängt. So beginnt „Unter dem Milchwald“, das wunderbare Stück für Stimmen von Dylan Thomas, in der kongenialen Übersetzung von Erich Fried.
Der große Meister aus Vinci ist Leonardo.
Opa Scharp ist Gustav Scharp (gestorben im Jahre 1978). Er nannte ein zweistöckiges Werkstattgebäude sein eigen. Es stand hinterm Wohngebäude am Markt 17 und war eine Schatzkiste: Werkzeug, Kisten, Kästen, Möbel, Bücher ...
Achim B. ist Achim Bröger, Kinder- und Jugendbuchautor aus Sereetz. Mit ihm habe ich einige Male zusammengearbeitet.
Carmen B. ist Carmen Blazejewski, Schriftstellerin und Filmemacherin aus Neu Nantrow bei Wismar. Ich schätze sie sehr.
Inge W. ist Inge Wilkens, Malerin aus Holzacker in Nordfriesland, der ich seit zwei Jahrzehnten freundschaftlich verbunden bin.
Gudrun J. ist Gudrun Johannsen aus Norderwöhrden, mit der ich die Abneigung gegen übergroße Spargel teile.