Texte/Reden

Manfred Schlüter

Laudatio auf Inge Meyer-Dietrich

Laudatio auf Inge Meyer-Dietrich
anlässlich der Verleihung des Friedrich-Bödecker-Preises
am 7. September 2018

Ich grüße Sie und euch alle.
Ich grüße dich, liebe Margrit.
Und ganz besonders dich, liebe Inge!

Ich freue mich darüber, dass ich hier stehen darf.
Um dich und dein umfangreiches Werk zu würdigen.
Das werde ich - ob seiner Vielfalt -
nicht in Gänze beleuchten können.
Ich werde einen sehr persönlichen Blick
auf dies und das werfen,
werde mich an die eine oder andere Begegnung erinnern.
Und immer wieder auch dich zu Wort kommen lassen.
Und ... ich werde nicht über dich sprechen. Das kann ich nicht.
Ich werde zu dir sprechen.

Eines deiner Gedichte möchte ich
an den Anfang meiner kleinen Rede stellen.

Traumbuch

Ich wollte schon immer ein Vogel sein.
Gestern im Traum bin ich einer gewesen.
Ich saß im höchsten Buchenbaum
und habe - was sonst? - ein Buch gelesen.

Es war ein Buch nach Vogelart,
mal federleicht, mal flügelschwer.
Ich flog mit ihm im Traum davon
und wollte immer mehr!

Als dann der Traum zu Ende war,
bin ich kein Vogel mehr gewesen.
Geflogen bin ich immer noch,
hab einfach weiter gelesen.

Liebe Inge, ich hab neulich auch gelesen.
Einfach immer weiter gelesen.
In einem Buch, das du mir vor vielen Jahren geschenkt hast.
PLASCHA oder: Von kleinen Leuten und großen Träumen.
1988 bei Anrich erschienen.
Auf eine der ersten Seiten hast du mit violettem Stift geschrieben:

Für Manfred mit vielen guten Wünschen
anlässlich einer schönen Begegnung in Braunschweig.
      Herzlich
              Inge
                            27.10.92

Da sind wir uns zum ersten Mal begegnet.
Im Oktober 1992.
Im Rahmen der Braunschweiger Jugendbuchwoche.
Und ich kann mich noch gut erinnern.
An die Abendveranstaltung
im Theaterspielplatz im Magniviertel.
Du hast aus Plascha gelesen.
Mit leiser Stimme. Den Menschen zugewandt.
Ohne große Gesten.
Hast mich - hast uns - dennoch berührt.
Hast uns vielleicht gerade aus diesem Grund berührt.

Du hast einmal gesagt:

Wichtig sind mir die leisen Töne
und auch, was zwischen den Zeilen steht.

Und ich möchte gern glauben,
dass die leisen Töne eindringlicher sind als die lauten.
Länger nachhallen in den Köppfen, den Herzen der Menschen.

Ich blättere in deinem Buch und lese auf Seite 26:

Plascha mag auf dem Friedhof (...)
das Feld mit den schönen alten Grabsteinen,
da liest sie laut für sich die Namen und rechnet sich aus,
wie alt die Leute geworden sind, und stellt sich vor,
wie sie wohl ausgesehen haben.
Und wenn ihr ein Name besonders gefällt,
findet sie es schade, dass sie den Menschen nicht kennt.

Da erinnert mich Plascha mich sehr an dich, liebe Inge.
Du warst ja auch mal Kind.
Und hattest damals schon Spaß daran,
dir Lebensläufe für andere auszudenken.
Und deine Kindheit, sie war stark vom Tod geprägt.
Deine Mutter ist gestorben, als du acht Jahre alt warst.
Und du hattest das Gefühl, so hast du mal geschrieben,
dass du aufpassen musst, wen du lieb hast.
Und: wen hast du lieb? Mir scheint, dass du -
neben den Menschen, die in deinem Leben
eine wichtige Rolle spielen -
ganz besonders den Menschen
in deinen Geschichten zugeneigt bist.
Das sieht, das sah auch der Autor und Kritiker
Hans-Jörg Loskill so:

Da schreibt eine, die die Menschen in ihrer Zerrissenheit
und ihrer Problematik annimmt
und mit ihnen geistige Freundschaft schließt.

Freundschaft also mit den Menschen
in deinen Geschichten.
Und ich füge hinzu: Freundschaft auch mit den Menschen,
die deine Geschichten lesen.

Du suchst und findest Worte, Sätze,
die uns mit den Menschen
in deinen Geschichten vertraut machen.
Ich spüre eine große Nähe zu Plascha,
zu Kalla mit dem großen Kopf,
zum Ötte und zum alten Kulla, zu Felix und Willi und Hermine,
zu Klärchen mit den bunten Schnüren und all den anderen.
Du hast eine Sprache - deine Sprache! -
und verlierst sie nicht aus den Augen: deine Leserin, den Leser.
Du bist ihnen nah, du sprichst sie an und nimmst sie mit.
Und sie, sie folgen dir. Ich auch ...

Inge Meyer-Dietrich, so sagt Hermann Bleckfeld,
schreibt mit sensibler Feder, geradeaus, ohne Umwege, mitten ins Herz.

Und du hast mal gesagt,
dass du keine Regieanweisungen fürs Leben geben möchtest.
Und dass dich für dein Schreiben
ganz besonders Menschen interessieren, die im Aufbruch sind.
Die sich der Träume und Hoffnungen
für ihre Zukunft erst bewusst werden -
und der möglichen Stolpersteine auf dem Weg dorthin.

Keine Regieanweisungen fürs Leben also!
Wer weiß, wer in deinem Leben Regie geführt hat ...

Du bist in Bochum aufgewachsen,
hast die Schule mit der Mittleren Reife verlassen,
hast in Bonn Krankenschwester gelernt,
hast das Abitur nachgeholt und dann studiert:
Soziologie, Germanistik und empirische Kulturwissenschaften.
Und seit 1986 lebst du in Gelsenkirchen
und schreibst Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Als Kind, so ist zu lesen,
hast du dir dein Leben schön geschrieben.
Das Schreiben war ein bisschen Flucht, hast du gesagt,
aber gleichzeitig ein "Klar-Werden" über Dinge.

Ich blättere weiter in deinem Buch und lese auf Seite 30:

Da wird der Wawciniak böse.
"Haben Sie sich schon mal die Hände dreckig gemacht,
Herr Pfarrer, haben Sie schon mal gehungert?
Und wie das ist, wenn einem das Kind krepiert,
weil man den Arzt und die Medizin nicht bezahlen kann,
haben Sie eine Ahnung davon?"

Als Kind hast du dir dein Leben schön geschrieben.
Als erwachsene Schriftstellerin allerdings
beschreibst du unsere Welt -
die vergangene und die heutige - so wie sie ist.
Verschweigst die Wunden nicht, die Kriege reißen.
erzählst von bittrer Not, von Hunger, Durst,
von Krankheit und von Tod.
Aber auch von Sehnsucht, Hoffnung,
von Kampf und Widerstand.
Von den großen Träumen der kleinen Leute.
Bist - so kommt es mir vor - Anwältin dieser Menschen,
der Benachteiligten, der Verunsicherten und Verzweifelten,
all derer, die am Rande stehen.
Du stehst ihnen bei. Hilfst ihnen, einen Weg zu finden.
Nicht immer den direkten Weg. Aber einen Pfad,
auf dem sich gehen lässt.

Inge Meyer-Dietrich - so schreibt Hans-Heino Ewers -
hat ein feines Gespür dafür,
wie viel Realismus sie ihrem Kinderroman beigeben muss,
damit er nicht zur Lüge verkommt,
und welch idyllischer Momente es bedarf,
um eine Kindergeschichte zu sein.

Wohl wahr!

Und du, liebe Inge, hast mal gesagt,
dass man Kinder nicht unterschätzen darf.
Man darf sie nur nicht mit ihren Fragen alleine lassen.
Und du lässt sie nicht allein mit ihren Fragen.
Lässt auch Plascha fragen.

Auf Seite 63 deines Buches beispielsweise. Da fragt sie:

Warum hast du die Menschen
nicht ein bisschen friedlicher gemacht,
lieber Gott, du könntest es doch so leicht.

Ja, warum? Da schweigt der liebe Gott.
Und auch du weißt keine Antwort. Weil es keine Antwort gibt.
Aber du weißt, dass du nicht leben könntest ohne zu schreiben.
Dass Schreiben auch ein Ventil sein kann.
Dass du Toleranz vermitteln möchtest.
Und versuchst, Worte für Gefühle zu finden.

Inge Meyer-Dietrich beschreibt behutsam große Gefühle.

So sagt Gabriela Wenke. Und so sage ich.

Liebe Inge, ich hab einiges erzählt.
Es gäbe noch sooo viel mehr zu erzählen!
Über Leben und Träume der Mimi H. etwa,
über Eisengarn und deine zahlreichen anderen Bücher
für kleine und große Menschen,
deine Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien,
deine Mitarbeit beim Wuppertaler Theater,
deine literarischen Beiträge und Hörspiele
für verschiedene Rundfunkanstalten,
deine Lesungen, deine Schreibwerkstätten
und deine Zusammenarbeit mit Tochter Anja.

Vielleicht sollte ich noch einige der Preise erwähnen,
die dir im Laufe der Jahre zuerkannt wurden.
Den Hans-im-Glück-Preis,
den Gustav-Heinemann-Friedenspreis,
den Zürcher Kinderbuchpreis "La vache qui lit",
den Österreichischen Staatspreis
für Kinder- und Jugendliteratur,
den Literaturpreis Ruhrgebiet für das Gesamtwerk
und so weiter ... und so fort ...

Ich habe eines deiner Gedichte an den Anfang gestellt.
Ich möchte ein zweites an das Ende meiner kleinen Reise stellen.

Komm

Ich hab ein Land in meinem Kopf,
da sind Geschichten drin.
Und immer, wenn ich einsam bin,
dann flücht ich mich dahin.

Ich hab ein Land in meinem Kopf
mit Farben, bunt und schön.
Da kann ich, wenn ich traurig bin,
mir Bilder malen gehn.

Ich hab ein Land in meinem Kopf
mit Tönen, laut und leis.
Da spiel ich mir ein kleines Lied,
wenn ich nicht weiter weiß.

Das Land in meinem Kopf ist groß.
Da passt du auch noch rein.
Wir wären traurig oder froh,
doch nicht mehr so allein.

Liebe Inge, ich wünsche dir,
dass du selten traurig bist und meistens froh!
Und schau mal: heute bist du nicht allein ...

Ich freue mich mit dir -
auch mit dir, liebe Margret -
und gratuliere herzlich
zum Friedrich-Bödecker-Preis!

Der Friedrich-Bödecker-Preis
wurde 2018 an zwei Schriftstellerinnen verliehen.
An Inge Meyer-Dietrich und Margret Steenfatt.
Die Laudatio auf Margret Steenfatt hielt Herbert Günther.