Texte/Reden

Dorothea Iser

Kein Mensch hat was gemerkt Rede anlässlich der Vorstellung des gleichnamigen Bilderbuchs im Rahmen einer Ausstellungseröffnung in Gardelegen 1993

Hinter den Deichen, dort, wo Meer und Himmel um die Wette blauen, treibt die Sehnsucht der Menschen, die in tristen Häusermeeren versinken, die in Glas und Beton sich dem Flimmern von Bildschirmen ergeben und den Asphalt mit jedem Atemzug schmecken, ihr eigenwilliges Spiel mit Winden und Wassern. Die Sehnsucht kennt keine Ebbe. Die Flut füllt die Priele, und die Wellen tragen das Schiff, das Hoffnung heißt, Menschen, die hoffen, berührt zu werden. Endlich berührt, tief unter der Haut, auf der zu leicht abperlt, was durch Poren dringen müsste. Genau dort am Wall wohnt ein Mensch, der merkt, was keinem anderen auffällt. Das mag an dem Land der Sehnsucht liegen, in dem er zu Hause ist. Es ist kein Paradies. Es kennt den Sturm, der grimmig sein Haus schüttelt und in das Dach greift, die neuen Ziegel zu verschleudern. Es kennt den Winter, der mit seinem Atem das Land verschließt und die Menschen häuslich macht. In diese Stille hinein drehen sich Wetterhuhn und Wetterhahn. Das Huhn liebt den eitlen Gockel aus Norderkarken. Aber Eitelkeit liebt man vergeblich. Das ist nicht nur beim Federvieh so. Ein sympathisches Huhn, keinesfalls dumm, wie man leicht annehmen könnte, bekennt sich zu seiner Liebe, schüchtern errötend, aber entschlossen. Es ist die Kraft der Sehnsucht, die Seelen füllt, wie das Meer die Priele anschwellen lässt zu wilden Wassern. Das Huhn, von dem die Menschen sagen, es sei dumm, verlässt, sehnsuchtsdurchtränkt seine Spitzenposition. Wer hoch aufsteigt, wird tief fallen. Natürlich. Erst das gestürzte Huhn findet starke Freunde. Lebensweisheiten in einer Kindergeschichte. Unaufdringlich, humorvoll, erfrischend. Selbst das Ekeltier der Menschen, die Ratte, kann ein Freund sein. Es ist in dieser Geschichte gleichberechtigt mit dem Schmusetier der Menschen, der Katze und der geliebten Eule. Ratz, Katz und Eule sind die Retter, für die das verliebte und geläuterte Huhn schließlich selbst zum Retter wird. Die Eichelinsel im Meer der Eintönigkeit. Und kein Mensch hat was gemerkt.

Nur der eine, der einsam hinter dem Deich sein Zuhause unter einem sturmlöchrigen Dach hat, weiß um die Geheimnisse des Wetterhuhns und seiner Freunde. Er ist auch ein Retter, einer der besonderen Art. Ob man fällt oder steigt, er ist da. Er zeichnet und erfindet, er tröstet und hört zu. Lange, geduldig, aufmerksam. Er ist ein stiller Zauberer. Wenn er will, berührt er uns mit seinen Farben, den Figuren und Geschichten. Er trifft uns im Land unserer Sehnsucht. Dort ist sein Zuhause. Spürbar, erlebbar in seinen gezeichneten und geschriebenen Geschichten. Dafür danken wir ihm und wünschen Mut zum Erfinden neuer Inseln. Wir brauchen sie. Wir, die Großen und die Kleinen, die Enttäuschten und Verliebten, die Schwachen und die Starken. Was immer wir verlieren, wir gewinnen mit ihm. Wir besiedeln das Land unserer Sehnsucht.